Video-Trilogien

Im selbst erschaffenen Objekt offenbart sich dem Künstler die Gestalt des eigenen Wesen. Ein intimes Erlebnis, das auch den Betrachtenden zu Teil wird, denn im Spiegel des Objektes erscheint stets der eigene innere Mensch. Hanspeter Lehmann ist sich dieses Phänomens bewusst und hat mich gebeten, seinen Kunstfilmen aus meinem Menschenbild erörternde Leitgedanken beizufügen.

Christoph Johannes Meyer 

Meines Erachtens hat Hanspeter Lehmann sechs Kunstfilme geschaffen, die sich in zwei zu verbindende Trilogien aufschlüsseln lassen. In der ersten Trilogie setzt sich der Künstler als ein im Geist Erwachender ins Bild mit den Titeln: (1) Treasures (die Schätze), (2) Mutationen ( der Wandel) und (3) Metamorphosis (die Verwandlung). In der zweiten Trilogie ist es sein im Geist erwachtes Wesen, das sich des angereicherten Kunstschatzes bedient und sich Dank dessen darzustellen vermag in den Werken: (4) Tagesträume, (5) Sagenhaft und (6) Weltenreise.

Der im Geist Erwachende

(1) Die Schätze (Treasures)

In seiner individuellen Entwicklung ersinnt und erdenkt sich der Mensch nicht nur eine persönliche äussere Welt, sondern auch sein inneres Wesen. Dabei bedient er sich entweder eines dualen oder eines polaren Verständnisses. In der Dualität trifft er auf nicht zu vereinbarende Gegensätze und in der Polarität stösst er auf zu verbindende Gegenteile. In beiden Fällen begegnet das Eine stets  dem Anderen. Dabei häufen sich persönliche geistige Schätze an.

Die Zweiheit in der Polarität als Eines veranschaulicht Hanspeter Lehmann in fünfzehn Sequenzen mannigfaltig, dies, nachdem er sich mit einem Eingangsbild selbst identifizierend ins Geschehen einbringt. Der Künstler erschafft sich in seiner eigenen Welt fortwährend neue Eindrücke. Seine Kreativität scheint unerschöpflich zu sein und lässt Raum und Zeit, damit man sich in den belichteten Bildern selbst zu spiegeln vermag. André Lemblé unterstreicht die Szenerie gekonnt mit einem jeweils entsprechenden Musikstil, was den einzelnen inneren und äusseren Ereignissen eine zusätzliche Färbung verleiht.

(2) Der Wandel (Mutations 17)

In den nicht zu vereinbarenden Gegensätzen der Dualität und den zu verbindenden Gegenteilen der Polarität ist der Mensch geistig auf sich selbst bezogen. Er greift willkürlich in die natürliche Evolution ein und wirkt indessen störend auf das harmonische Ganze. Als eigenmächtig Erschaffender einer inneren und äusseren Welt steht er fortwährend in Resonanz zur vorgegebenen Schöpfung. Die erfolgten Eingriffe resp. Übergriffe in diese werden als Mutationen, als Veränderungen subjektiv wahrgenommen und gewertet.

Hanspeter Lehmann bewirkt durch fliessende Übergänge zwischen den einzelnen Sequenzen ein zusammengehöriges Gebilde. Das Aktuelle entspringt jeweils einem Vorhergehenden und mündet in ein Nachfolgendes. Eine nicht enden wollende Veränderung des soeben erstandenen geistigen Seins und Werdens. Der Komponist Volker Barber bestärkt diesen realen Vorgang einladend mit entsprechenden Übergänge, rhythmisch wie instrumental.

 

(3) Die Verwandlung (Metamorphosis)

Die Mutation mündet in der Metamorphose. Aus Wandel wird Verwandlung. Während der Mensch sich auf den Geist in seinem Inneren einlässt, verwandelt sich sein Wesen Er verknüpft und verbindet sich mit dem Geist, kann gar mit ihm eins werden. Aus Geistigkeit wird sodann Geistlichkeit, im Guten wie im Bösen. Durch Vermengung von Subjekt Mensch und Objekt Geist erschafft sich der Geistesmensch selbst. Seine Entwicklung gipfelt in der Beschaulichkeit. Er wird ein Wissender seiner selbst.

Hanspeter Lehmann bringt das menschliche Subjekt in nebulösen Gebilden und den Geist in klaren Objekten zueinander in Beziehung. In fortwährender Resonanz vermengen sich diese unter stets wechselnder Vorherrschaft zu einem gemeinsamen Ganzen. Der im Geist Erwachende manifestiert sich in eigens erschaffenen Doppelbelichtungen, ohne sich des imaginativen Selbst-Ausdrucks stets bewusst sein zu müssen. Die errungene Geistigkeit scheint im Nicht-, Unter- oder Vorbewusstsein noch zu schlummern. Dafür präsentiert sich die Geistlichkeit in der musikalischen Begleitung von André Lemblé umso kräftiger. In übergreifender Erhabenheit erschallt das innere Wesenhafte der einzubringenden Selbst-Schöpfung und prägt den Charakter des Gesamtkunstwerks eindringlich. Der Komponist nutzt für sich die Bilder, um dem aufsteigenden Geist im eigenen Innern die subjektive Gestaltung zu gewähren.

Der im Geist Erwachte

(4) Tagträume

Im Laufe der Zeit ist der Mensch evolutionsbedingt schrittweise erwacht aus der geistigen Trance, dem Nichtbewusstsein, dem geistigen Schlaf, dem Unterbewusstsein, und dem geistigen Traum, dem Vorbewusstsein. Im geistigen Wach-sein ist er sich seiner Selbst bewusst. Im individuellen Denken, Fühlen und Wollen nimmt der Geist in ihm Gestalt an; beim Denken wird die Sehnsucht, beim Fühlen die Begierde und beim Wollen die Leidenschaft geweckt.

Hanspeter Lehmann lässt diesen Vorgang im schöpferischen Zusammenführen einst erstandenen Bilder sichtbar werden. Gleich zu Beginn zeigt er sich selbst im Sinnbild als Pilger auf dem Weg zum Geist. Und im Einblenden eines reflektierenden Menschen, lädt der Künstler, am Ereignis durch Selbstspiegelung anteilig zu sein. Entsprechend dem geistigen Aufwachprozess folgen vier beeindruckende Filmsequenzen. Die einzelnen Phasen des Erwachens werden mit ergreifenden Bildern der allgemeinen Rastlosigkeit im und unter Menschen eingeleitet. Diese werden immer wieder von neuem vermengt mit Imaginationen, geschöpft aus der inneren Ruhe. Der Komponist André Lemblé untermalt die Bildabfolgen musikalisch ausgehend von szenisch eingespielten Geräuschen und führt das geistige Sein und Werden in ein persönlich zu erlebendes Verhältnis zum erscheinenden Geist.

 

(5) Sagenhaft

Der geistig wache Mensch steht seinem Geist auf Augenhöhe gegenüber. Ohne sich dessen bewusst sein zu müssen, verknüpft er sich mit ihm in der Imagination, verbindet er sich mit ihm in der Inspiration und wird eins mit ihm in der Intuition, insbesondere in der Reflexion. Er verfällt dabei gerne dem Schein, der Illusion und der Fiktion, objektiv zu sein. Infolge der inneren Haltung, sich gegenüber anderen Menschen behaupten zu müssen, beschämt, demütigt und entwürdigt er sein Gegenüber fortwährend. Gesteht er sich indessen ein, infolge seiner Subjektivität keinen Anspruch auf Wahrheit geltend machen zu können, kann sich in ihm Scham, Demut und Würde einstellen.

Hanspeter Lehmann gestaltet diesen psychischen Vorgang imaginativ. Die Übergänge der vier Sequenzen hält er in Finsternis, sodass für einen kurzen Moment das eigene Nicht-sein im Verhältnis zum vertrauten Sein aufsteigen kann. Die höheren Stufen des Bewusstwerdens präsentiert der Künstler mittels doppelbelichteten und in sich überlagernden Bergmotiven in ergreifender Schönheit. Zitate aus der Lehre des Konfuzius, aus Goethes Schriften und aus Indianischen Weisheiten sind wegbegleitend eingeblendet. Sie wirken als geistige Leitmotive. Dieses unmittelbare Zusammensein des Menschen mit dem Geist ist auch in der musikalischen Gestaltung von André Lemblé zu beobachten. Zu Beginn jeder einzelnen Szene wird der Zeitenlauf deutlich hörbar im Tick-Tack-Klang einer Uhr eingebracht. Im einstimmenden Reigen vereinen sich dann die einzelnen Instrumente zu einem harmonischen Ganzen und bekunden so mit Epos ihre geistliche Erhabenheit.

(6) Weltenreise

Der eigennützige Anspruch auf Wahrheit ist ein mächtig ohnmächtiges  Unterfangen, denn der Mensch ist an seine subjektiven Wahrnehmungen gebunden. Die individuelle  Entwicklung hin zum Geist gipfelt allenfalls in der Beschaulichkeit, der sogenannten Kontemplation, aus welcher dieses Phänomen aus Distanz zu sehen ist. Im persönlichen Verhältnis zum eigenen Wesen erscheinen Mensch und Geist als zwei sich gegenseitig bedingende Wesenheiten. Zusammen vereint, bilden sie den  Geistesmenschen. Aus der beschaulichen Perspektive gesehen, ist der Mensch als Subjekt nicht mehr aktiv. Diese Funktion übernimmt nun der Geist.

Hanspeter Lehmann hat dies unmittelbar erfahren, als er sein "Weltenreise" mit der eingespielten Vertonung des Komponisten André Lemblé zum ersten mal hörte. Wie in früheren Kunstfilmen verkörpert auch hier die Musik die Geistlichkeit. Sie erweist sich nun als Fremdkörper. Der Künstler wurde sich gewahr, dass er von einer Vertonung abzusehen hat, möchte er seine Position der Beschaulichkeit wahren und dies den Betrachtenden vor Augen führen. So hat er sich auf eine lyrische Filmsprache besonnen, welche im Inneren des Menschen Ruhe zu erzeugen, Frieden auszulösen und Stille zu begünstigen vermag. Die einzelnen Schritte werden markiert durch ein, aus heiteren Himmel erscheinendes, nicht zu definierendes Leuchtzeichen. Eine lichte Hieroglyphe, als Ankündigung der im Schlussbild auftauchenden Metapher Love? - Hanspeter stellt keine Fragen, gibt auch keine Antworten. Im individuellen Verständnis von Liebe soll der Einzelne seine persönliche Weltenreise im gemeinsamen Menschheitsschicksal entdecken können.

 

(7) Im Fluss

Im gemeinsamen Resonanzraum erlebten wir einen abschliessenden Höhepunkt. Hanspeter Lehmann hatte als unermüdlicher Kunstschaffender Aufnahmen von Wasserbewegungen in einem Fluss und am Meer seinem Bildarchiv entnommen, szenisch miteinander verknüpft und, in den so entstandenen Film, drei Leitsätze eingefügt.

Danach hat er mich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, zu den Bildern einen Text zu schreiben und diesen auch zu sprechen. Wir beschlossen einen Versuch zu wagen. Anlässlich der Finissage der Ausstellung im Scala Basel konnte Hanspeter Lehmann das Ergebnis den Anwesenden präsentieren. Im Film wirkt das menschliche Wesen des Künstlers "im Bild" während das in meinem Buch "Eine wahre Wirklichkeit" systemisch besprochene "Menschenbild" sich schrittweise zu erweisen vermag.

 

Christoph Johannes Meyer

 

Human- und Geisteswissenschaftler

Autor